Utopien für eine zukunftsfähige Gesellschaft
Prof. Dirk Helbing warnt vor den Folgen der Digitalwirtschaft, weil unsere Demokratie und Freiheit bedroht ist. Er plädiert für den demokratischen Kapitalismus, mit einer Daten-Selbstverwaltung, einem sozio-ökologische Finanzsystem und Städte-Olympiaden und er entwirft eine Vision für eine zukunftsfähige Gesellschaft.
Elita Wiegand führte das Interview mit Prof. Dirk Helbing
Sie warnen vor einer Digitalwirtschaft, in der wir unsere Freiheit, Demokratie und Menschenwürde verlieren und sprechen von einem „Überwachungs-Kapitalismus.“ Was verbirgt sich hinter Ihrer düsteren Prognose?
Dirk Helbing: Wir leben in einer Gesellschaft, die erfolgreich auf zwei Systemen aufgebaut ist: Kapitalismus und Demokratie. Die beiden Systeme haben jedoch unterschiedliche Ziele, die miteinander in Konflikt geraten. Während der Kapitalismus die eindimensionale Größe des Profits maximiert, will die Demokratie die Menschenwürde schützen. Nun sind Daten die neue Währung und der Überwachungs-Kapitalismus macht uns zu Produkten. Diese Ökonomie ist auf unsere Aufmerksamkeit gerichtet: Wer sie erhascht, kann uns beeinflussen, Produkte zu kaufen, Meinungen zu ändern, bestimmte Parteien zu wählen – man kann uns auf diese Art und Weise steuern, kontrollieren und überwachen. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie benutzt auch Methoden der Propaganda mittels Künstlicher Intelligenz, verwendet Social Bots. Und Algorithmen bestimmen immer mehr, was möglich ist und was nicht: „Code is Law“. So werden Gesetze des neuen Kapitalismus am Parlament vorbei gemacht und Politiker werden gar nicht erst gefragt. Es sind nur wenige digitale Konzerne, die bestimmen, wie die neue Welt funktioniert. Wir merken das inzwischen daran, dass sich die Gesellschaft immer stärker polarisiert, extreme Positionen eingenommen werden. Das spaltet die Gesellschaft.
Wir müssen uns demnach zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden?
Dirk Helbing: Wir brauchen einen demokratischen Kapitalismus. Die heutige Lösung reicht für eine nachhaltige Zukunft nicht aus: Unsere Ressourcen sind begrenzt, der Druck auf den Planeten wird größer, der Klimawandel wird relevant. Wenn wir nichts ändern, bewegen wir uns auf ein Katastrophenszenario zu. Nun müssen wir uns entscheiden, was das übergeordnete Prinzip sein soll: Demokratie oder Kapitalismus. Für eine lebenswerte Zukunft müssen wir uns fragen, wie wir die Herausforderungen demokratisch bewältigen. Wir benötigen dazu neue Organisationsformen, brauchen Informationsplattformen und Technologien, die unsere verfassungsmäßigen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökologischen Werte in sich tragen. Die kapitalistische Utopie, von der ich spreche, wurde kürzlich in einem Artikel von brand eins beschrieben.
Es wäre doch im nächsten Schritt wichtig, dass wir über unsere Daten bestimmen können. Sie haben vor kurzem dazu ein konkretes Modell zur Daten-Selbstverwaltung vorgestellt. Wie sieht es damit aus?
Dirk Helbing: Die Idee ist, dass es für jeden von uns ein elektronisches Postfach für persönliche Daten gibt, in das alle erzeugten Daten gesendet werden müssten. Der Grundsatz, der rechtlich und technologisch festgelegt werden sollte, würde sein, dass wir in Zukunft entscheiden, wer welche Daten zu welchem Zweck, zu welcher Zeit und zu welchem Preis verwenden darf. Mit diesem Ansatz wären alle personalisierten Produkte und Dienstleistungen möglich, aber die Unternehmen müssten im Voraus fragen und das Vertrauen der Menschen gewinnen. Dies würde einen Wettbewerb um Vertrauen und schließlich eine vertrauensbasierte digitale Gesellschaft schaffen, in der wir alle leben wollen. Für die Daten-Selbstverwaltung brauchen wir Unterstützung. So könnte ein AI-basierter digitaler Assistent uns helfen, unsere Daten zu verwalten. Aber am Ende entscheiden wir, was freigeschaltet wird. Die Nutzung personenbezogener Daten, auch Statistiken, die für Wissenschaft und Politik erstellt werden, wäre erlaubt, aber auch sie müssten transparent dem Datenspeicher gemeldet werden.
Weitere großen Baustellen sind unser Finanz- und die sozialen Systeme. Wie können wir uns neu erfinden und uns befähigen, die Zukunft zu gestalten?
Dirk Helbing: Zunächst zu unserem Finanzsystem: Wir haben damit ständig Ärger. Alle paar Jahre gibt es Crashes und Krisen, die Schuldenspirale ist ein Dauerbrenner, und wir stehen in einer ökonomischen Abhängigkeit von Hierarchien, die unser demokratisches System aushöhlen, und die Ungleichheit noch weiter auf die Spitze treiben. Die Benefits der Gelderzeugung können nicht wenigen Menschen vorbehalten bleiben, denn Chancengleichheit ist ein fester Bestandteil der Demokratie. Wir müssen unser Finanzsystem verändern und ein mehrdimensionales Anreiz- und Koordinationssystem schaffen, um selbstorganisierende, selbstregulierende Systeme zu ermöglichen.
Das sozio-ökologische Finanzsystem böte neue Möglichkeiten, Geld zu verdienen, beispielsweise indem wir etwas für Umwelt tun, uns um Pflegebedürftige kümmern oder jemanden im Auto mitnehmen. Dafür bekämen Sie ein Guthaben auf diverse digitale Konten ausbezahlt, würden belohnt für Innovation, soziales, kulturelles oder ökologisches Engagement. Auf diese Weise entfesseln wir neue Kräfte im Markt und lassen eine Kreislauf- und Sharing Economy entstehen. Mit einem Grundeinkommen könnten wir die notwendigen Kosten des Lebens abdecken. Es würde unserer Gesellschaft erlauben, den wirtschaftlichen Strukturwandel zu vollziehen und aus freien Stücken eine neue Rolle in der digitalen Gesellschaft zu finden.
Die neue Rolle wird vielleicht gefunden, aber wird es reichen, die Zukunft mit einem Grundeinkommen abzusichern? Sie setzen zusätzlich auf eine Investitionsprämie, um einen Anreiz für innovative Ideen zu schaffen. Das müssen Sie erklären…
Dirk Helbing: Die Basisversorgung wäre mit dem Grundeinkommen gesichert, aber das allein motiviert uns nicht, weil der Leistungsanreiz fehlt. Deshalb wäre die Investitionsprämie ein Weg, um neue Ideen, Innovationen, soziales und ökonomisches Engagement oder Nachbarschaftsprojekte zu fördern. Menschen können sich etwas dazu verdienen oder engagieren sich, weil sie sich selbst verwirklichen wollen. Die Investitionsprämie könnten wir in Projekte investieren, die wir lokal für wichtig und richtig halten, Projekte die große Unternehmen oder die Kommunen nicht umsetzen, weil sie zu weit weg, zu schwerfällig, bürokratisch oder langatmig sind. Das Crowdfunding für alle sehe ich als wichtigen Bestandteil des demokratischen Kapitalismus, ein kooperativer Wettbewerb, der Selbstbestimmung und Freiheit, Innovationen und Aufbruch beinhaltet: ein Land voller Entrepreneure mit Think-Tanks und Reallaboren.
Nun gehen Sie noch einen Schritt weiter und stellen sich vor, dass Städte in einem globalen Wettbewerb treten, um die besten nachhaltigsten und krisenfesten Lösungen zu finden und miteinander zu teilen. Sie nennen es Städteolympiade, aber wie muss man sich das vorstellen?
Dirk Helbing: Es gäbe verschiedene Wettbewerbsdisziplinen und dazu verschiedene „Gewichtsklassen“ für Klein- und Großstädte zum Beispiel. Mögliche Disziplinen wären etwa nachhaltige Wirtschaft, Energieeffizienz, CO2-Reduktion, Krisenfestigkeit und friedliches Zusammenleben. Für die Städteolympiaden würden Ingenieure, Forscher oder Zukunftsmacher neue Erfindungen vorstellen, über die die Medien dann berichten. Ich stelle mir vor, dass die innovativen Ideen und Innovationen frei, also Open Source wären, damit jeder davon lernen oder sie sogar weiterentwickeln kann – die besten Lösungen würden sich verbreiten. Auf diese Weise würden die gesellschaftlichen Kräfte entfesselt, um unsere Probleme gemeinsam anzupacken und bessere Lösungen zu finden. Ich glaube, dass wir damit eine dritte Säule hätten, um die Weltprobleme zu lösen, indem wir Kreativität und Engagement einbinden, demokratisch und partizipativ.
Was ist für jeden Einzelnen notwendig, damit wir den besten Weg für eine gemeinsame Zukunft finden?
Dirk Helbing: Wir müssen reflektieren, über unser Leben, unsere Gesellschaft, wo wir hinwollen. Dabei hilft es zu meditieren, einzukehren und innere zu Ruhe finden, sonst können wir gar nicht mehr unseren eigenen Standpunkt erkennen. Wir müssen lernen, unsere Intuition zu stärken. Wissen wir, was wir wirklich wollen, wo wir im Leben eigentlich hin möchten, wo wir mit unserer Gesellschaft hinsteuern? Wir brauchen natürlich auch den öffentlichen Dialog. Es braucht eine digitale Aufklärung, aber auch eine digitale Emanzipation und Befähigung. Viele müssen erst einmal aufwachen! Das Problem ist, dass man das Digitale größtenteils nicht sieht, nicht riecht, nicht hört oder fühlt, aber es ist da und es hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Darüber müssen wir uns stärker bewusst werden und entsprechend handeln. Es geht uns alle an!
Über Prof. Dirk Helbing
Dirk Helbing ist seit 2007 Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikdepartments der ETH Zürich. Seit Juni 2015 ist er assoziierter Professor an der Fakultät für Technik, Politik und Management an der Technischen Universität Delft, wo er die Doktorandenschule „Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future“ leitet.
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Prof. Dirk Helbing
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Superintelligenz – und dann? Vortrag von Prof. Helbing
Prof. Dirk Helbing erläutert, dass wir neue Arten von digitalen Plattformen benötigen, um unsere Gesellschaft nachhaltig und krisenfest zu machen. Um auf ein neues Level von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu gelangen, braucht es außerdem eine digitale Transformation des Geld- und Finanzsystems und Maßnahmen, die zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy führen, damit die begrenzten Ressourcen des Planeten auch in Zukunft reichen.