Die sexuelle Revolution beginnt erst…

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Soviel steht fest: Menschen werden in Zukunft immer noch Sex haben, aber nicht so oft, um ein Kind zu zeugen. Der technologische Fortschritt führt dazu, dass der Geschlechtsverkehr zur Fortpflanzung der Vergangenheit angehört. Diese provokante These vertritt Henry T. Greely. Er ist Direktor des Stanford-Programms für Neurowissenschaften und Gesellschaft und er hat zu dem Thema ein Buch geschrieben mit dem Titel „The End of Sex and the Future of Human Reproduction. „In 20 Jahren entscheiden sich die meisten Menschen dafür, in einem Labor schwanger zu werden“, prophezeit er.

Künstliche Befruchtung: In Zukunft mehr Retortenbabys

1978 kam das erste Retortenbaby zur Welt. Seitdem wurden rund acht Millionen Menschen nach einer künstlichen Befruchtung geboren. Die Zahl könnte sich in Zukunft drastisch erhöhen, weil sich die genetischen Risiken minimieren.

Henry Greely beschreibt in seinem Buch die rechtlichen und ethischen Herausforderungen, denen sich die Wissenschaftler stellen müssen. „Wie bei vielen Veränderungen gibt es auch Kritiker, aber mit der Zeit werden immer Menschen über die künstliche Befruchtung nachdenken“, betont Greely.

Wenn Babys im Labor entstehen und vielleicht nur noch wenige Frauen über den Geschlechtsverkehr schwanger werden – was bedeutet das für unsere Sexualität?

Sex – die Frage nach dem Warum

Keine Frage: Sex erfüllt biologische Triebe, den Wunsch sich fortzupflanzen und sich an den Partner zu binden. Das hat uns die westliche Tradition überliefert. Die Stoiker haben versucht die Zügellosigkeit zu stoppen, Sex in ein Schema zu pressen und bekundeten, dass die Fortpflanzung der einzige Grund für den Geschlechtsverkehr sei. Die Moralvorstellungen bahnten sich durch Augustinus einen Weg in die christliche Tradition und üben im Westen nach wie vor einen enormen Einfluss aus. Sexualität ist nur dann akzeptabel, wenn sie der Fortpflanzung dient.

Retortenbaby Die sexuelle Revolution beginnt erst...

Liebe und erotisches Verlangen 

Einen anderen wichtigen Grund für Sex hat Aristoteles definiert. In „Prior Analytics“ aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. schrieb der griechische Philosoph:

„Geliebt zu werden, ist dem Geschlechtsverkehr vorzuziehen. Erotisches Verlangen ist also eher ein Verlangen nach Liebe als nach Verkehr. Der wahre Grund, warum wir Sex haben ist, dass wir lieben und geliebt sein wollen“, so Aristoteles. Beim Sex gehe es um etwas Höheres, etwas Edleres. Wenn Aristoteles richtig liegt, dann hat Sex keinen erotischen Zweck: Sex hat eigentlich nichts mit Sex zu tun.

Lust und Spaß  

Wir haben Sex, um uns fortzupflanzen und uns zu binden. Das sind jedoch nur zwei von vielen möglichen Antworten. Dazu ein Beispiel: Das Essen. Aus Sicht des Überlebens ist es sinnvoll, dass wir essen. Doch die Ess-Kultur hat sich entscheidend verändert: Heute werden Instagram-Food-Accounts eröffnet, gibt es unzählige Kochbücher und Kochsendungen, Happy Hours oder Kochevents. Es wird immer schwieriger, den genauen Zweck des Essens zu bestimmen. Fazit: Der Unterschied zwischen uns und den Tieren besteht darin, dass wir regelmäßig Freude daran haben, unnütze Dinge zu tun. Wir tun es, weil wir es genießen und es Freude bereitet. Und so ist es auch mit Sex: Der Akt macht eigentlich nur Sinn, wenn er keinen Sinn macht. Sex macht Spaß. Punkt.

Die Pille – das Ende der Zivilisation?  

Deshalb war die Pille revolutionär und rief Kritiker auf den Plan. In einem Artikel von Readers Digest aus dem Jahr 1968 sagte die Autorin Pearl S.Buck: „Jeder weiß, was die Pille ist. Es handelt sich um ein kleines Objekt. Doch die möglichen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft sind noch verheerender als bei der Atombombe.“ Konservative sahen sich darin bestätigt, dass Sex ohne das Warum das Ende der Zivilisation bedeutete.

Muss Sexualität frei sein?

Die sexuelle Revolution hat unsere Einstellung zu Sex gravierend verändert. In einer Studie aus dem Jahr 2015 untersuchte Jean M. Twenge, Psychologieprofessorin an der San Diego State University die Einstellung der Amerikaner zum Sex in den 1970er bis 2010er Jahren. Das Ergebnis: In der Zeit wurde nichtehelicher Sex viel stärker akzeptiert und immer mehr Amerikaner glauben, dass die Sexualität frei sein muss. Junge Menschen berichten von einer signifikant höheren Anzahl von Sexualpartnern und mehr von Gelegenheitssex als diejenigen, die im 20. Jahrhundert geboren wurden.

Twenge weist darauf hin, dass die Einstellungen in einer Bevölkerung je nach Alter, Rasse, Geschlecht und religiöser Überzeugung unterschiedlich sein können. Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich im Laufe der Zeit „die sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen der Generationen erheblich verändert haben“.

Antibaby-Pille Die sexuelle Revolution beginnt erst...

Unsere Sexualethik ist also nicht zeitlos: Sie wird sich weiterentwickeln und vielleicht viel schneller, als wir erwarten.  

Sex zum Zweck 

Ist Homosexualität natürlich? In der Tierwelt hat man Homosexualität bei mehr als 500 Arten beobachtet. Darunter Fruchtfliegen, Mehlkäfer, Albatrosse, Tümmler und sogar Pinguine sind dafür bekannt gleichgeschlechtliche Paare zu bilden. Schwule Männer, lesbische Frauen haben uns voraus, dass sie Sex nur zum Zweck des Sexes erleben. Die schwule Kultur war immer offener für die Lust und hat damit auch gegen jede Moralvorstellung verstoßen. Sie bietet uns die Möglichkeit eingeprägte Sexualverhalten in Frage zu stellen und darüber nachzudenken, was Sex bedeutet, wenn es um Zeugung, Heirat, Liebe – oder gar um feste, monogame Beziehungen geht. Schwule Paare befürworten zu 40 Prozent eine offene Beziehung, im Vergleich zu 5 Prozent der heterosexuellen Paare. Wenn diese Art von Sexualität künftig zur Norm wird, haben Schwule und Lesben dafür die Tür geöffnet.

Sex der Zukunft: Digitaler und weniger chaotisch 

Zukunftsforscher haben vorausgesagt, wie sich der Sex künftig gestaltet. Die Szenarien beinhalten „Virtual Reality Pornos“, Penisvergrößerungen bis hin zu haptischen Technologien, bei denen sich entfernte Menschen zum Orgasmus bringen. In Zukunft wird der Sex digitaler, weniger organisch und weniger chaotisch sein. Auch die Fortpflanzung wird technologische Veränderungen mit sich bringen. Seit 1978 wurden mehr als acht Millionen Menschen durch IVF (In-vitro-Fertilisation) geboren. Diese Zahl wird drastisch steigen, je allgegenwärtiger und erschwinglicher die Technologien werden. Wenn Greelys Vorhersagen richtig sind, wird sich in den nächsten vier Jahrzehnten die Art und Weise, wie Kinder geboren werden, grundlegend ändern. Die Präimplantationsdiagnostik (PDI) wird dank der Entwicklungen in der Genetik und Stammzellforschung einfach zugänglich und erschwinglich. So fasst Greely die Forschung in dem Artikel Guardian Artikel „Who needs sex to make babies? Pretty soon, humans won’t“ zusammen.

„Ein Paar, dass Kinder haben möchte, wird eine Klinik besuchen und eine Spermaprobe, sie eine Hautprobe hinterlassen. Zwei Wochen später erhalten die künftigen Eltern Informationen über 100 Embryonen, die aus ihren Zellen hergestellt wurden. Dann werden sie auswählen, welches Embryon für eine mögliche Schwangerschaft und Geburt in den Mutterleib gelangen sollen.“

Monogamie ade? 

Auch die Monogamie müssen wir vermutlich überdenken. Die Lebenserwartung ist enorm gestiegen. Von 1960 bis 2017 stieg der Durchschnitt um 20 Jahre. Schätzungen zufolge wird die Lebenserwartung bis 2040 um mehr als vier Jahre steigen. Steven Austad, Professor für Biologie an der Universität von Alabama zum Beispiel glaubt, dass der Mensch, der 2001 geboren wurde, etwa 150 Jahre alt wird. Doch wie realistisch ist es, sich 130 Jahre lang auf denselben Sexualpartner zu beschränken? Die höhere Lebenserwartung wird dazu beitragen, dass wir auch unser Eheversprechen „bis uns der Tod scheidet“ hinterfragen werden.

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Wird Sexualität immer ein wichtiger Bestandteil unserer Identität bleiben?

Die sexuelle Identität wird sich verändern. Was passiert, wenn die Zeugung im Labor stattfindet? Könnten sich Menschen künftig frei fühlen und nach Belieben Sex mit Männern und Frauen haben? Oder fühlen sie sich wohler, ihre eigenen sexuellen Wünsche zu kultivieren? Ist das Konzept der sexuellen Orientierung und Identität mit einem archaischen Begriff der Reproduktion verbunden? Werden wir Wörter wie „heterosexuell“ und „homosexuell“ in Zukunft nur noch im Geschichtsunterricht hören?

Vor ein paar Jahren sagte die Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler auf einer Konferenz: „Vielleicht ist es es ungewohnt sich vorzustellen, dass man Sex hat, um Spaß zu erleben.“ Doch die Realität holt uns ein. In Zukunft wird die Bedeutung von Sex – Sex sein.

Via futurism