Die Metamorphose der Verführer –
oder warum sich Werbeagenturen neu erfinden sollten

Von Immo Schiller, Geschäftsführung von LA SOUPE und CYAN EXTRA DRY brand communication

Der Zukunftsforscher Matthias Horx ist der Meinung, dass es bestimmte Punkte in der Menschheitsgeschichte gibt, in der sich das gesellschaftliche Leben radikal verändert. Eine Rückkehr zum alten System ist danach unmöglich. Die Erfindung des Buchdrucks beispielsweise führte zu einer rasanten Verbreitung von Bildung. Die industrielle Revolution war der Beginn einer Entwicklung, die anfangs zur Verelendung der Arbeiter führte, letztendlich aber zu allgemeinen Wohlstand. Heute sind wir wieder an so einem Punkt. Es liegt etwas in der Luft. Das kann jeder spüren. Die Furcht vor einer ungewissen Zukunft treibt die „besorgten Bürger“ auf die Straße. Sie halten krampfhaft ihr altes Leben fest und wissen jedoch instinktiv, dass die Veränderungen unumkehrbar sind. Sie verleugnen alles, was ihre Ängste auslöst. Den Klimawandel und Umweltverschmutzung ebenso wie schwindende Ressourcen, Corona, Digitalisierung und Globalisierung. Die Leugnung ist die erste Stufe. In der zweiten, der Schuldzuweisung, lässt sich nichts mehr leugnen, weil die Folgen für alle spürbar werden. Dann werden Schuldige gesucht, an denen sie ihre Wut ausleben können. Einer muss doch schuld an der Misere sein. Die Juden, die Ausländer, der Islam, die Superreichen, allen voran Bill Gates, die Illuminaten oder aber auch alle gemeinsam haben sich verschworen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das hat in der Vergangenheit zu den grausamsten Verbrechen geführt: die Judenpogrome des Mittelalters, die Hexenverbrennungen bis weit in die Neuzeit und die Konzentrationslager im Nationalsozialismus, in den Juden, Schwule und Lesben, Roma und Sinti und viele andere auf fürchterliche Weise umgebracht wurden.
Vor diesem Hintergrund müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen, viele dieser Menschen können wir nicht mehr erreichen. Alles, was wir als Gegenargumente bringen, wird entweder gleich in die Verschwörungstheorie eingewoben oder als Fake News abgetan. Diese Menschen sind verloren.

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Wo aber bleibt die Vision für die Zukunft?

Für welche Utopie lohnt es sich zu kämpfen? Die Antwort ist einfach: Für die Hoffnung. Es besteht Hoffnung bei den Mitläufern der ersten Stufe. Wenn wir offen und transparent kommunizieren und diesen Menschen ihre Zukunftsängste nehmen, werden wir einige von ihnen vielleicht noch zurückgewinnen. Zuversicht ist das Gegengift. Die Zukunft ist keine düstere und seelenlose Zeit. Entwerfen wir ein Gegenmodell, dass lebenswert ist – mit möglichst vielen positiven Beispielen aus allen Bereichen. Hier ist Kommunikation gefragt. Und wer wäre für diese Aufgabe besser geeignet als die Kommunikationsprofis aus der Werbung?

Von der Werbeagentur zur Werteagentur 

Werbeagenturen werden sich zu Werteagenturen wandeln. Statt Waschmittel verkaufen sie Visionen für eine lebenswerte Zukunft, statt Versicherungen bewerben sie gesellschaftliche Utopien und statt schöne neuen Werbewelten zu kreieren, werden Ideen geboren, die dazu beitragen die Welt ganz real schöner zu machen. Die positive Verwandlung wird in vielen Fällen nicht freiwillig geschehen, sondern im Auftrag und mit Nachdruck ihrer Kunden. Denn die produzierenden Unternehmen befinden sich selbst längst in einem Transformationsprozess.

Noch ist nicht klar, welche überleben werden und welche untergehen. Jetzt werden die Karten unter Hochdruck neu gemischt. In einer von Ressourcen begrenzten Welt kann es nicht länger darum gehen, den hemmungslosen Konsum anzuheizen. Vielmehr werden Marktanteile eines nahezu gleichbleibend großen Markts immer wieder aufs Neue verteilt. Es entsteht ein permanenter Verdrängungswettbewerb um die besten Ideen und Services.

So kaufen die Kunden von morgen keine Autos, Waschmaschinen, Fernseher und Bekleidung mehr. Den Besitz von Konsumgütern ersetzen innovative Dienstleitungsangebote und Services. Wir kaufen in Zukunft Mobilität, saubere Wäsche, Unterhaltung und modische Statements. Die hierfür notwendigen Produkte bleiben Eigentum des Unternehmens und werden innerhalb einer zirkulären Kreislaufwirtschaft am Ende des Produktlebenszyklus zurückgegeben. Die Wertstoffe werden wiedergewonnen. Daraus entstehen neue modernere Produkte, die beispielsweise energieeffizienter sind als die alten. Zudem drängen neue Wettbewerber mit disruptiven Strategien auf den Markt. Die etablierten Anbieter geraten zunehmend in die Defensive. Wer heute nicht den Wandel einleitet, kann morgen schon Geschichte sein.

Neue Perspektiven

In dieser Situation eröffnen sich völlig neue Perspektiven für die zukünftigen Werteagenturen. Sie stehen als Partner und Begleiter den Unternehmen im Transformationsprozess zur Seite. Das Kreativpotenzial wird nicht nur eingesetzt, um in Kampagnen die Services und Werte der jeweiligen Unternehmen zu bewerben, sondern auch um konkrete Lösungsansätze für komplexe Anforderungen und Herausforderungen zu finden. Dieses geschieht in interdisziplinären Teams. Die klassischen Gewerke der alten Werbeagenturen werden je nach Aufgabenstellung mit Fachexperten wie Ökologen, Architekten, Ingenieuren, Ärzten oder Ethikern sowie Spezialisten der Kunden ergänzt. So entstehen viele kleine Think Tanks, die über Visionen und Utopien sowie neue Gesellschaftmodelle nachdenken. Das ist die Basis, auf der innovative Produkte und Services entstehen können. Wie kann der perfekte Service aussehen? Wie können ökologische und ethische Fragen besser berücksichtigt werden? Wie schaffen wir klimaneutrale Produkte? Wie bauen wir faire Lieferketten auf? Das sind nur wenige von ganz vielen Fragen, die sich in der Zukunft stellen. Darauf gilt es, Antworten zu finden.

Es leben die Werte!

Gleichzeitig ist es wichtig, den Konsumenten stärker als bisher in die Produktentwicklung einzubeziehen, ihnen Zusammenhänge zu erklären und  Zukunftsvisionen spannend und inspirierend, aber auch ehrlich und realistisch, zu erzählen. Es gibt keinen Grund, ängstlich in die Zukunft zu sehen. Wir können sie gemeinsam mit Zuversicht gestalten. Wenn sich das in den Köpfen verankert, dann haben auch die Rattenfänger von rechts und links keine Chance. Agenturen, die sich diesem Wandel verweigern, werden genauso verschwinden wie ihre einstigen Auftraggeber, weil sich die Gesellschaft weiterentwickelt und an den bevorstehenden Herausforderungen wächst. Unternehmen, die gegen ökologische und ethische Standards verstoßen, müssen zukünftig nicht nur mit Ansehensverlust in der Öffentlichkeit rechnen, sondern auch verstärkt mit Restriktionen und empfindlichen Strafen. Die Zeit des ungebremsten Kapitalismus ist vorbei und damit auch die Zeit der klassischen Werbeagenturen. Es leben die Werteagenturen! Es leben die Werte!

PS: Natürlich kann es auch ganz anders kommen. Es liegt an uns, welche Zukunft wir wollen und für welche wir kämpfen.